Die Wüste im Herzen der Dämmerung
Ein Märchen über die vergessene Energie
Es war einmal ein Land, weit jenseits von Zeit und Raum, verborgen in den stillen Falten der Wirklichkeit. Man nannte es die Dämmerungswüste. Kein Ort aus Sand und Stein – sondern ein Ort aus Licht, Klang und dem Flüstern der Seele.
Einst lebte dort ein junger Wanderer namens Elian. Er trug Fragen in seinem Herzen – viele, tiefe Fragen über das Leben, über Schöpfung, über das unsichtbare Band, das alles miteinander verband. Und wie alle Suchenden hatte auch er gehört: „Suche die Energie, sie ist der Schlüssel.“
So durchstreifte Elian viele Reiche. Er kletterte auf Berge der Disziplin, tauchte in Meere aus Wissen, sass mit Weisen in ihren Höhlen aus Gedanken. Er studierte Kraft, Bewegung, Manifestation – doch etwas blieb stets unerfüllt. Die Energie, nach der er suchte, schien immer einen Hauch entfernt.
Bis er eines Tages erschöpft, fast verzweifelt, in der Dämmerungswüste ankam. Die Sonne war gerade untergegangen, und ein kühler, sanfter Wind strich über das leuchtende Land. Der Sand glühte im silbrigen Licht der nahen Sterne. Und da hörte er es – ganz leise, ganz zart: ein Lied.
Kein Lied aus Lauten. Es war ein Lied, das man nicht hörte, sondern fühlte. Es vibrierte tief in seinem Inneren, wie ein Lächeln, das aus der Ewigkeit kam.
„Wer singt da?“, flüsterte Elian.
Da trat eine Gestalt aus dem Licht. Es war eine Frau mit Augen wie fliessendes Wasser und einem Gewand aus Sternenstaub. Sie war weder jung noch alt. Man konnte nicht sagen, ob sie eine Göttin war oder einfach nur das Leben selbst.
„Ich bin die Energie, von der du gehört hast“, sagte sie sanft. „Doch du hast mich immer ausserhalb gesucht. In Wahrheit komme ich aus deiner eigenen Freude, aus der Leidenschaft deines Ich Bin.“
Elian senkte den Blick. „Aber ich bin nicht würdig… Ich habe versucht, dich zu nutzen, zu beherrschen…“
Die Gestalt lächelte. „Energie urteilt nicht. Sie fragt nur eines: ‚Willst du mich tanzen lassen?‘ Ich bin kein Werkzeug, kein Besitz. Ich bin dein Lied, dein Licht, deine Hingabe, dein Mut.“
„Und warum konnte ich dich nie wirklich finden?“, fragte Elian.
„Weil du mich greifen wolltest. Doch ich bin kein Ding. Ich bin Kommunikation. Reines Sein. Ich komme, wenn du erlaubst.“
Ein Moment der Stille folgte, tief wie der Ursprung aller Dinge. Dann hob Elian seine Hände – nicht um zu nehmen, sondern um zu empfangen.
Und in diesem Augenblick veränderte sich alles. Der Sand begann zu leuchten, als erzählte jedes Korn eine Geschichte. Die Sterne tanzten näher an die Erde, und die Luft war durchzogen von feinen Lichtfäden, wie Musik, die sichtbar wurde.
Elian weinte – Tränen der Erinnerung. Nicht weil er traurig war, sondern weil er sich erinnerte, wer er war: ein Schöpfer, ein Träumer, ein Liebender, der vergessen hatte, dass die ganze Welt seine Bühne ist.
„Ich bin bereit“, flüsterte er. „Ich bin bereit, dich mir dienen zu lassen – nicht aus Macht, sondern aus Vertrauen. Nicht aus Bedürfnis, sondern aus Freude.“
Da lächelte die Energie. Sie verneigte sich tief und verschwand nicht – sie wurde zu seinem Atem, zu seinem Schritt, zu jeder Berührung, zu jedem Klang, der aus seinem Herzen kam.
Und so wurde Elian zu einem Meister der Dämmerung – nicht, weil er Kontrolle hatte, sondern weil er erlaubte. Er wurde zum Licht in der Wüste, zum Lied zwischen den Sternen, zum lebendigen Atem der Seele.
Und wann immer du – ja, du – die Augen schliesst und ganz still wirst, kannst du sie vielleicht auch hören:
die Energie, die dir zuflüstert:
„Ich bin hier. Ich bin dein. Lass mich dir dienen.“
SunTai – April 2025